VTV forever?

In diesem Jahr wäre der Vegesacker Tennisverein 100 Jahre alt geworden. Er hat dieses Jubiläum nicht mehr erlebt. Im Herbst letzten Jahres, im 99. Jahr seines Bestehens, geriet der Vegesacker Tennisverein in Insolvenz, von der er sich nicht mehr erholte. Bemühungen, einen Nachfolgeverein zu gründen, scheiterten. Dort, wo zwar keine 99, aber doch fast 60 Jahre lang Tennisplätze lagen, werden schon bald Parkplätze sein. Unsere Tennishalle steht leer und wartet auf ihren Abriß. Der Vegesacker Tennisverein ist ausgelöscht. Mein Club ist tot. Ich bin sehr traurig.

Und frage mich, ob es so kommen mußte. Irgendwie habe ich diesen Verein, in dem ich vor fast 40 Jahren Tennis spielen lernte, für unsterblich gehalten. Der Vegesacker Tennisverein, der nach dem Tennisverein von 1896 Bremen zweitälteste Tennisverein in Bremen, war ein stolzer Verein. Und es gab Zeiten, da war man sehr stolz, Mitglied werden zu dürfen. Dies war Ende der 60er Jahre keineswegs selbstverständlich. Man benötigte Bürgen und mußte eine Aufnahmegebühr bezahlen. Es gab einen Aufnahmestop. Nicht jeder, der Tennis spielen wollte, durfte dies auch. Man blieb bevorzugt unter sich, was sich 15 Jahre später grundlegend ändern sollte. Boris Becker führte Deutschland in einen Tennisboom ohne Gleichen, von dem auch der Vegesacker Tennisverein profitierte. Tennis wurde zum Volkssport. Es gab keine Beschränkungen mehr. Jeder konnte, sollte, durfte Tennis spielen. Und fast jeder tat dies auch. Damals. Leider hielt diese Entwicklung nicht an. Urplötzlich geriet Tennis, dieser klassische, wunderbare Sport, aus der Mode. Die Jungen spielten Streetball, die Älteren Golf. Fitneßstudios boomten. Tennis als Sport geriet in die Krise und mit ihm die Vereine.

Ich habe dies hautnah miterlebt. Als ich Ende 1996 den Vorsitz im VTV übernahm, befand sich der Tennisvereinssport nicht nur bei uns, aber eben auch bei uns, schon einige Jahre in der Talfahrt. Die Mitgliederentwicklung war allerorten stark rückläufig. Unter großen Anstrengungen gelang es uns damals, diesen Abwärtstrend für eine gewisse Zeit zu stoppen. Wir bemühten uns intensiv um neue Mitglieder und konnten plötzlich wieder einen Mitgliederbestand von mehr als 500 verzeichnen. Wir Vegesacker wurden 1998 sogar vom Verband für deutlich überdurchschnittliche Mitgliederzuwächse geehrt. Aber es war nur ein Zwischenhoch. Im Sommer 1998 feierten wir den 90. Geburtstag des Vegesacker Tennisvereins mit einem rauschenden Fest in einem Zelt neben unserer Halle. Die, die dabei waren, werden diesen spektakulären Sommerabend noch in bester Erinnerung haben. Zwei Jahre später investierten wir noch einmal in einen neuen Hallenbelag, aber schon damals mußten wir erkennen, daß Tennis in Vegesack in Zukunft nicht mehr das sein würde, was es einmal war. Wir verloren gute Trainer und konnten andere, die uns weiter geholfen hätten, nicht gewinnen. Die Jugend, das wichtigste Kapital, wandte sich zunehmend von uns ab und mit ihr die Eltern. Viele Mitglieder, die Jahrzehntelang aktiv in Vegesack Tennis gespielt hatten, meldeten sich passiv. Damals wie heute hatte und habe ich für die, die dann auch noch ihre passive Mitgliedschaft kündigten, kein Verständnis. Die alte Garde starb nach und nach weg. Und die, die nicht starben, konnten oder wollten jedenfalls nicht mehr spielen. Viele Herren-, Damen- und gemischte Doppel, die man über Jahre hinweg immer wieder zur gleichen Zeit auf dem Platz bewundern konnte, spielten irgendwann nicht mehr. Ihr Platz blieb leer. Plötzlich konnte man zur besten Zeit Plätze frei auswählen, die noch wenige Jahre zuvor heftig umkämpft waren. Ich erinnere mich an unsere erste Traglufthalle, bei der Anfang der 70er Jahre der einzige Platz an jedem Wochentag bis nachts um 1.00 Uhr ausgebucht war. Ich erinnere mich an listige Strategen, die schon am frühen Morgen auf der Freianlage ihre Marke aufhängten, um einen Platz für den Abend zu belegen. Wenn denn die eigene Marke nicht von einem noch findigeren Konkurrenten umgehängt werden sollte. Ich weiß noch zu gut, wie schwierig es war, in den 80er und frühen 90er Jahren Hallenstunden zu bestimmten Zeiten zu bekommen. Die Clubsekretärin wurde beschimpft, wenn die Wunschstunde nicht verfügbar war. Aber wie war es in den letzten Jahren? Wir konnten uns nach Herzenslust austoben. Die freien Plätze liefen uns förmlich nach. Aber sie machten uns auch insgeheim betroffen.

Es gibt so viele Namen, die ich sofort und unverwechselbar mit Tennis in Vegesack verbinde. Meine persönliche Meinung ist, daß der Vegesacker Tennisverein sein Herz verloren hat, als Eberhard Kemnitz, der Präsident, der diesen Club über viele Jahre ebenso umsichtig wie erfolgreich geführt hat, nicht mehr zur Verfügung stand. Unter ihm hatte der Verein goldene Zeiten. Aber die Seele des Vegesacker Tennisvereins starb, dies ist meine ganz persönliche und subjektive Meinung, mit Dr. Karl-Heinz Große. Ihn sehe ich in meiner Erinnerung als den unverwechselbaren Tennisspieler in Vegesack. Vielleicht ist mein Blick getrübt, weil ich, wie man weiß, ein begeisterter Kartenspieler bin und Karl-Heinz Große ein nicht nur ebenso begeisterter Skat- und später Bridgespieler war, sondern auch den unvergeßlichen „Molotow“ in Vegesack einführte, was dazu führte, daß sogar ein Pokal nach ihm benannt wurde. Karl-Heinz Große hinterließ im Vegesacker Tennisverein eine Lücke, die nicht zu schließen war.

Es gibt viele andere Namen, die ich in meiner Erinnerung, in meiner nostalgischen Rückschau, mit Tennis in Vegesack verbinde. Die nachfolgende Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Exemplarisch nur einige Namen, die für mich über Jahrzehnte gleichbedeutend waren mit weißem Sport auf rotem Sand: Herbert Elias, Bodo Baresel, Herbert Johon, „Pluscho“ Goldhagen, Vater und Sohn Gies, Walter Mohr, Herr Linke, der gemeinsam mit seiner Frau Jugendsportwart war, als ich mit Tennis begann und mit seinen Söhnen in einer Mannschaft spielte, Heribert Förster, Heinz Peinemann, Rudi Scharn, Heinrich Lueken, vielleicht der treueste aller Vegesacker Tennisspieler und der größte Fan der Damenmannschaft, die so manchen großen Kampf, oft im Doppel mit meinem Vater, für die Seniorenmannschaft ablieferte. Gustav, der „Eiserne“, Borchardt. Pummy Peters, der Doppelstratege. Freundschaftsspiele gegen Hamburg Othmarschen, organisiert von Evi und Kalle Ohde. Meine Schwester, mein Schwager, ihre Kinder, meine Kinder, sie alle spielten für die Vegesacker Farben. Mitte der 90er Jahre kamen noch einmal T-Shirts mit dem unverwechselbaren VTV-Logo auf den Markt. Die, die es trugen, trugen es mit Stolz und ganz bewußt. Ich denke an meinen langjährigen Wegbegleiter über viele Tennisjahre und etliche Mannschaften hinweg Gerd Scheinert. Wolfgang Patzelt, Dietmar Naß mit seinen einzigartigen Netzattacken 2 m hinter der Grundlinie. Seine Frau Ulla, die im Wechsel mit Dietmar regelmäßig das jährliche Molotowturnier gewann. Ich habe intensivste Erinnerungen an Horst Heinrich, gegen den ich beim Tennis nie gewinnen konnte. Meinen späteren Sparringspartner Uwe Dusdal. Karin und Manfred Kahlen, die jeden, wirklich jeden Sonntagmorgen, so schien es zumindest, zum Mixed antraten. Karin Groth, die Eheleute Töbelmann, Hinnie Moll. Knut Hartmann, den fiel zu früh verstorbenen Uwe Schneider, Rainer Küchen, mit seinen gefühlvollen Rückhandstops, aber auch seinen zahllosen Bandagen. Michael Fuhrmann, der im Doppel unbesiegbar war und mit dem ich 1999 meine letzte Vereinsmeisterschaft gewonnen habe. Ich sehe Heiko Petersen und Hartmut Kirbach vor mir, Pit Düring, der noch mit seinem 20 Jahre alten Holzschläger auflief, als alle Turnierspieler längst Karbon oder Graphit spielten. Magda Lotz, Gitta Ebert, Ruth und Wolfgang Meyer, die Armbrüsters, Bernd Gabler und wie sie alle heißen. Und hießen. Ich werde sie, wir werden sie nicht vergessen, so wie ich, so wie wir alle den Vegesacker Tennisverein nicht vergessen werden.

Und wieder stelle ich mir die Frage – haben wir uns wirklich hinreichend dem Tod dieses Traditionsvereines entgegengestemmt? War dieses plötzliche Aus tatsächlich unvermeidbar? Ich weiß, daß es einige gab, die sich über Jahre unermüdlich bemüht haben. Stellvertretend für alle möchte ich mich bei Alex Cramer bedanken, der in den letzten 25 Jahren wie kein anderer für den Tennissport in Vegesack gekämpft hat. Dennoch – es ist unfaßbar, daß es diesen Verein nicht mehr gibt. Daß man schon in diesem Sommer, vielleicht schon nach Ostern, dann, wenn wieder die Netze aufgespannt werden sollten, keine Tennisbälle im Vegesacker Stadion mehr fliegen sehen wird. Dafür fliegen meine Gedanken, sie fliegen zurück und streifen 40 wunderbare Jahre. Meine allerersten zaghaften Ballwechsel mit der Ballwand, die, selbst in die Jahre gekommen, noch immer da steht, wo sie schon damals stand. Der Geruch von nassem, rotem Sand, den ich heute noch in der Nase habe. Ich denke an meinen ersten Trainer, Herrn Zeitler, und nach ihm den Trainer, der, so unkonventionell er gewesen sein mag, unsere Jugendarbeit entscheidend vorangebracht hat – Frank Nebel. Schleifchenturniere und Vereinsmeisterschaften zu Pfingsten mit heute unvorstellbaren 64er Feldern. Ich denke an erste Liebschaften im Club und in diesem Zusammenhang natürlich an unseren legendären „Verlobungsplatz“ Platz 9, der in den letzten Jahren nicht mehr in Stand gesetzt wurde. Mir fällt „Stadionaufseher“ Lothar Keil ein und unser Platzwart, Herr Hardt. Ich denke zurück an Pfingstturniere und an meinen ersten Rausch mit 15 Jahren. Ausgelöst durch zu viele Jägermeister, die Heinz Buck uns Jugendlichen spendierte. Ich reflektiere meine Jugendpunktspiele, Jahre später, wie war ich stolz, die 1. Herrenmannschaft, die, wenngleich völlig erfolglos, sogar ein Jahr in der Oberliga spielte. Trainer Vucetic mit seinen braunen Socken. Hans-Jürgen Meyer und Pawel Marecek. Dann, wo ist die Zeit geblieben, die schöne und erfolgreiche Jungseniorenzeit. Ich denke an meine letzten schönen Tennisjahre in einer ganz anderen Mannschaft, der Herren 40. An Uwe Knappe & Co., die wunderbaren Doppel mit Volker König, als man uns auch die „Twintowers“ nannte sowie an meine ersten Begegnungen mit dem Rotationsprinzip. Ich besinne mich gut 10 Jahre zurück an freundschaftliche Herausforderungskämpfe der damaligen Jungsenioren gegen die ehemaligen Jungsenioren um Gerd Moll und Gerd Dormann sowie natürlich an die legendäre Boßeltour, die es immer noch gibt, wenngleich auch ihr Glanz ein wenig verblaßt ist, vielleicht, weil wir alle älter geworden sind, und bei der in diesem Jahr nicht einmal mehr geboßelt wurde.

Von 1996 bis 2001 habe ich nach bestem Wissen und Gewissen versucht, die Geschicke dieses Vereins als Präsident zu lenken. Ich habe damals eine Vereinszeitung ins Leben gerufen, die insgesamt zehnmal erschienen ist. „VTV forever“. Haben wir uns getäuscht? Stand dieser Verein nicht für etwas, das immer da ist? Etwas, das dem Wandel der Zeiten trotzt? Doch, es ist so. Der Vegesacker Tennisverein, der fast 100 Jahre alt geworden wäre, der große und weniger große Zeiten hatte, wird weiter leben. In unseren Gedanken und in unseren Herzen. Er wird weiter leben in den Geschichten, die wir unseren Kindern erzählen und vielleicht auch in den Geschichten, die unsere Kinder ihren Kindern erzählen werden. Und diese, unsere Kindeskinder, werden dann vielleicht irgendwann auf dem Dachboden oder im Keller ein vergilbtes Exemplar von „VTV forever“ finden. Sie werden ihre Eltern oder, wenn wir noch leben, uns, ihre Großeltern, fragen, wer das denn war, der Vegesacker Tennisverein. Wir werden ihnen dann voller Stolz erzählen, daß der Vegesacker Tennisverein ein großer, ein unvergleichbarer Verein war. Ein Verein, der sehr alt geworden, aber nicht gestorben ist. Der sich jetzt nur etwas ausruht. VTV forever!

Ich habe davon abgesehen, im Alleingang eine 11., eine allerletzte Auflage von „VTV forever“ drucken zu lassen. Wahrscheinlich hätte es zu sehr geschmerzt. Ich habe auch der Versuchung widerstanden, zu einem anderen Club zu wechseln. Jetzt, wo alle, die Vegesack über Jahrzehnte sportlich in den Schatten stellte, plötzlich da sind und sich mit Dumping-angeboten um ehemalige Mannschaftsspieler und Mitglieder bemühen. Sportliche Leichenfledderer! Ich war Vegesacker, ich bleibe Vegesacker und ich werde immer Vegesacker sein. Es hätte – ich weiß, daß mich kaum jemand verstehen wird – diesen, meinenVerein entweiht, wenn ich jetzt noch für einen anderen Club, ohne das Vegesacker Logo auf der Brust und im Herzen, zum Schläger gegriffen hätte. So war mein vierzigjähriges Tennisleben untrennbar mit dem Vegesacker Tennisverein verbunden und das ist gut so.

Dies, liebe Tennisfreunde, sind meine ganz persönliche Erinnerungen. Ich bin mir sicher, daß der eine oder andere ähnlich empfindet. Ich erlaube mir daher, diesen etwas wehmütigen Rückblick auf den viel zu früh verstorbenen Vegesacker Tennisverein einigen ausgewählten ehemaligen Mitgliedern zuzusenden. Es sind die, bei denen ich denke, daß sie in diesen Tagen, an denen der Vegesacker Tennisverein 100 Jahre alt geworden wäre, auch sehr traurig sein müssen. Ich erhebe erneut keinen Anspruch auf vollständige Erfassung. Es soll mir aber Niemand, den ich jetzt nicht direkt anschreibe, böse sein. Ich bin gern bereit, jedem, der daran interessiert ist, ein Exemplar meiner Gedanken an den ruhmreichen Vegesacker Tennisverein zuzusenden.

Uwe Schoolmann